"Das Volk verloren"

Gegen den „Irrweg des Einheitsapparates in Europa“ streitet eine neue Beschwerdevor dem Bundesverfassungsgericht. In Karlsruhe wehren sich weitere erfahrene Experten ausWirtschaft, Politik und Wissenschaft gegen den „Vertrag von Lissabon“. Ihn hatten 26Regierungschefs am 13.12.2007 besiegelt. Vorgeblich sollte er die Europäische Unionaus langjähriger Stagnation befreien. Hier nun einige Details und Hintergründe.

Das Volk verloren

[Pressemitteilung von europolis-online.org ]

Die Beschwerdeführer werfen der Bundesregierung vor, sie habe den Rahmen des Grundgesetzes verlassen. Es seien die demokratischen Vollmachten gesprengt, die ihr Wähler und Volk anvertrauten. Zugleich rügen sie die Abgeordneten des Bundestags und den Bundesrat, weil sie in blinder Zustimmung nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Mitbürger entmündigt hätten.


Angerufen haben das Gericht Prof. Dr. Dr. Dieter Spethmann, früher Vorstandsvorsitzender der Thyssen AG, Franz Ludwig Graf Stauffenberg, ehemals Bundestagsabgeordneter und dann Vorsitzender des Rechtsausschusses im Europäischen Parlament, Prof. Dr. rer. pol. Joachim Starbatty, Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, und – zugleich als Verfahrensbevollmächtigter – Prof. Dr. jur. Markus C. Kerber, Berlin und Paris. Sie bekennen sich nachdrücklich zur wirtschaftlichen und politischen Einheit Europas. Sie wehren sich jedoch gegen das wuchernde Dickicht der Normen und Anmassung, die Europa entdemokratisiert haben. Die Unionsorgane erweitern stetig ihre verwaltende und rechtschöpfende Macht. Demokratische Legitimierung ist ihnen entglitten; ebenso fehlt die gelebte, prüfbare Verantwortung vor den Bürgern. In Brüssel und Strassburg geht nicht mehr „alle Gewalt vom Volke aus“.

Das Grundgesetz sichert jedermann im Volke das Grundrecht auf Mitwirkung. Da „Staatsgewalt“ auch durch Übertragung auf zwischenstaatliche Einrichtungen nur leiche Staatsgewalt bleiben kann, muss auch europäisch jedem Bürger das demokratische Recht der Mitwirkung bleiben. Ebenso bleibt ihm die dauernde Rechenschaftspflicht der Ermächtigten. Im heutigen Konstrukt der EU wurden Schaffung und Ausübung hoheitlicher Gewalt dem Wissen und Willen der Bürger entzogen. Die demokratische Legitimation ist zerbrochen, in Lissabon unheilbar.

Der Vertrag von Lissabon hat damit gegen die Grundsätze des individualen Grundrechts und der Gewaltenteilung (Art. 38 und 20 Grundgesetz) verstossen. Diese elementaren Gebote aber schützen die Menschen vor aller Hoheit. Sie sind unantastbar, auch in Staatsverbänden, die unser Grundgesetz zulässt. Rechtsstaatliche Demokratie steht nicht in Konkurrenz zu einem „zwischenstaatlichen“ Europarecht. Sie ist dessen Vorbedingung. Die Beschwerdeführer wehren dem routinierten, nahezu lautlosen Systemwandel, der das Ideal des zur Freiheit geeinten Europa demontiert hat in ein undurchdringliches Geflecht anonym-administrativer Herrschaft. Sie rügen die verschleiernde Komplexität der Europa-Verträge, die – vielgestaltig löchrig, beliebig auslegbar und daher willkürlich nutzbar – sich immer neue Ermächtigungen schaffen und häufen.


1993 schon hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 89, 155 ff.) den Maastrichter Vertrag nur mit der Massgabe gebilligt, dass die Europäische Union die Umkehr zu Demokratie- und Rechtsgemeinschaft nachholen werde. Die Beschwerdeführer monieren, dass Bundesregierung und Volksvertreter das hohe Gericht ignoriert haben. Die schweren Fehlentwicklungen seien nicht geheilt oder gemildert. Vielmehr würden zusätzliche, nunmehr entgrenzte Zuständigkeiten weder vom europäischen noch den nationalen Parlamenten kontrolliert oder gezähmt. Das unbrauchbare Vertragsprojekt zur Wahrung der – tatsächlich verweigerten – Subsidiarität bleibe eine monströse Farce der Ablenkung. Einen Freibrief zu kontinuierlicher Ausweitung der Macht gewähre das neue „vereinfachte“ Verfahren (Art. 48 EUV-Lissabon), das keine Rücksicht nimmt auf das demokratische Grundrecht der europäischen Bürger, und somit auf Demokratie schlechthin.


Selbst wenn Vertreter des Volkes ihre Verfassung ändern dürfen (Art. 79 GG), erlischt ihre Vertretungsmacht dort, wo sie die Grenzen des anvertrauten Mandats überschreiten. Zum Abschluss des Vertrags von Lissabon waren Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat nicht ermächtigt, hatten sie kein Recht. 1)

Schwellende Komplexität und undurchdringliche Amtsverstrüppung prägen heute die Europäische Union. Sie wird beherrscht von Konglomeraten gemeinschaftlicher und nationaler Agenten. Sie ist den Bürgern nicht vermittelbar. Sie ist ihnen entzogen. Der Vertrag von Lissabon bekräftigt die Wandlung von rechtsstaatlicher Demokratie zur rechenschaftslosen Herrschaft von anonymen Funktionseliten.

1) Das Grundgesetz verbietet nämlich Verfassungsänderungen durch Bundestag und Bundesrat, die über gewisse Grundsätze hinausgehen, die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes festgelegt sind. Solche Verfassungsänderungen, die auf eine inhaltlich völlig andere Verfassung hinauslaufen, sind dem Verfassungsgeber , also dem Deutschen Volk, vorbehalten, das dieses Recht z.B. durch Volksabstimmung ausüben könnte. Allerdings müßte es zuvor auch an der Ausarbeitung beteiligt gewesen sein - Bundestag und Bundesrat haben aber den Vertrag nur abgenickt und nicht gestaltet. - Anm.d.Red.


Erklärung der Kläger (weitere Pressemitteilung) im Wortlaut:

Wer sich zu neuen Ufern wagt, muss gegen den Strom schwimmen


Dieter Spethmann
Franz Ludwig Graf Stauffenberg
Joachim Starbatty
Markus C. Kerber

Wir sehen uns in der Pflicht, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

Denn die Gefahren, die vom Lissabon-Vertrag ausgehen, werden politisch und juristisch nur teilweise von den anhängigen verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfen erfasst. Die Erwartungen des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil 1 sind leider enttäuscht worden. Sie wurden von einer europäischen Realität überrannt in Gestalt

  • fortgesetzter Verstöße gegen den Stabilitätspakt,
  • anmaßender Kompetenzüberschreitungen durch die Europäische Kommission,
  • rechenschaftsloser Herrschaft und Auflösung jeder Gewaltenteilung.

Im Wege der Verfassungsbeschwerde soll an den Kern des Europäischen Vertragswerks - die Gesamtheit von individuellen Freiheitsgewährleistungen - erinnert werden. Anders ist nicht sicherzustellen, dass das Prinzip der Einzelermächtigung, der Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie das Funktionieren der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft respektiert werden.


Nicht etwa aus grundsätzlicher Skepsis gegenüber der Europäischen Integration sondern aus tiefer Sorge um ihr Gelingen belegen wir in der Verfassungsbeschwerde, die dem Bundesverfassungsgericht seit 21.01.2009 vorliegt, gravierende Missstände:


  • Der Lissabon Vertrag stellt die Fehlentwicklungen der EU als Währungsunion und Rechtsgemeinschaft, wie sie seit 1992 entgegen der Prognose des Bundesverfassungsgerichts eingetreten sind, weder normativ-institutionell ab, noch mildert er diese.
  • Die entgrenzten Kompetenzerweiterungen des Lissabonvertrages werden weder durch das Europäische Parlament noch durch die nationalen Parlamente kompensiert. Das Verfahren zur Verstärkung der Rolle der nationalen Parlamente ist eine Farce.
  • Neben der Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Rat und der damit verbundenen Perspektive der Überstimmung Deutschlands kann das gesamte Vertragswerk in einem vereinfachten Verfahren ohne Befragung der gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik Deutschland geändert werden.
  • Der Lissabon Vertrag stellt ein Maximum an Unverständlichkeit dar. Diese Unverständlichkeit verschleiert den eigentlichen Charakter des Vertragswerkes: Es handelt sich in der Sache um ein Ermächtigungsgesetz, das – bis auf Verteidigungs- und Außenpolitik - alle Politikbereiche den Administrations- und Politikeliten von Kommission, Rat und Europäischem Parlament ausliefert. Mit dem Lissabon Vertrag würde die Europäische Integration endgültig zu einem selbstlaufenden Automatismus werden, der es Administrationseliten erlaubt, über das Schicksal Deutschland ohne das deutsche Volk zu schalten und zu walten.

Mit dem Vertrag von Lissabon kann somit kein Fortschritt in der europäischen Integration erzielt werden. Mit ihm ist keine Identität der Völker Europas zu stiften. Er eliminiert jedweden erkennbaren, klaren Verantwortungszusammenhang zwischen den Rechtsakten der Europäischen Union und den eigentlichen Trägern, den Völkern Europas. Hierdurch verletzt er in flagranter Weise Art. 38 GG und beseitigt die Minimalia der gem. Art. 20 Abs. I II sowie gem. Art. 79 III GG erforderlichen Gewaltenteilung. Nach alledem verstoßen er und die Begleitgesetze gegen die durch Art. 38 i. V. mit Art. 79 III, Art. 20 Abs. I und II GG geschützten Grundrechte aller Deutschen.


siehe auch: Die Verfassungsbeschwerde von Staatsminister a.D. Dr. Peter Gauweiler MdB



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