Das Versprechen von Demokratie und Rechtsstaat - 60 Jahre Grundgesetz

Am 23. Mai 1949 trat es in Kraft, unser Grundgesetz, und wir dürfen auf diesen gelungenen Höhepunkt der deutschen Verfassungsgeschichte stolz sein. Doch so einzigartig menschenfreundlich und klug in der Disziplinierung der Macht es sich jedenfalls in seiner Urform trotz des Verzichts auf direkte Demokratie präsentiert, so sehr ist es im 60. Jubiläumsjahr in seiner Substanz bedroht - wie vielleicht nie zuvor in seiner noch jungen Geschichte.

Denn in diesem Jubiliäumsjahr ist das Grundgesetz aktuell gleich mehreren Bedrohungen ausgesetzt, die allesamt von innen und oft auf leisen Sohlen daherkommen. Der kontinuierliche Versuch seitens des Bundesministers des Innern, explizit Bürgerrechte abzubauen, unsäglich unterstützt von unverantwortlichen Politikern der großen Koalition, deren tragende Parteien genau diese Rechte einstmals aus gutem Grunde im Parlamentarischen Rat im Grundgesetz verankerten, ist dabei vielleicht noch die "harmloseste" Bedrohung - denn hier besteht noch die beste Chance, diese Aktivitäten mittels Verfassungsbeschwerden in die Schranken zu weisen.

Noch viel kritischer sind jedoch die Bedrohungen, die unser Rechtssystem gewissermassen am Fundament aushöhlen und sich wie Mehltau über das Grundgesetz legen. Das ist zum einen die bedrohliche Entwicklung durch eine demokratisch nicht mehr legitimierte EU, die sich mehr und mehr zum Diktator über das Leben der sie konstituierenden Völker aufschwingt und mit dem Vertrag von Lissabon diesen schlechten Zustand verschlimmbessert. Denn es besteht die reale Gefahr, dass das Grundgesetz zur Landesverfassung deklassiert wird - so wie etwa die Landesverfassung Nordrhein-Westfalens durch den Vorrang des Grundgesetzes zurücktritt. Auf Europäischer Ebene sind jedoch Regelungen dem Grundgesetz vergleichbarer Qualität und vor allem die Einhaltung des Demokratieprinzips nicht gegeben. So spielt das schon nicht demokratisch zusammengesetzte Europäische Parlament in etwa die Rolle eines EU-"Betriebsrates"; das Sagen haben vor allem die nicht demokratisch verantwortliche Kommission und der Ministerrat der nationalen Regierungen. Es gibt es dort auch keine Unantastbarkeit der Menschenwürde, wie sie das Grundgesetz kennt, oder gar Ewigkeitsklauseln, die den Bestand von Rechtsstaat und Demokratie garantieren.

Gleichzeitig wird der Demokratie im Rahmen der Finanzkrise die wirtschaftliche Basis entzogen. Der Parlamentarismus nimmt gigantischen Schaden durch die faktische Selbstaushebelung des Deutschen Bundestages über die Kontrolle der Staatsfinanzen, eine Entwicklung, die bereits im Rahmen betrügerisch-dubioser Privatisierungspraktiken für öffentliche Großunternehmungen wie der Telekom und zuvor das Verfahren der Treuhand-Privatisierung eingeleitet worden war.

Möglich wurde diese Entwicklung vor allem durch das aus dem Gleichgewicht geratene politische Gesamtsystem. Walter Eucken sprach schon etliche Jahre vor der Verkündung des Grundgesetzes von der Interdependenz der Ordnungen. Die Interdependenz, also wechselseitige Abhängigkeit der Ordnungen, bedeutet, dass es nicht ausreicht, auf der Ebene der Staatsorganisation und des Rechts (wie im Grundgesetz) ein System von "Checks and Balances" zu installieren. Vielmehr muß ein solches, erfolgreiches System auch eine Machtbalance bis in den Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft hinein sicherstellen.

In diesen beiden Bereichen jedoch haben sich in sechzig Jahren erfolgreichem Aufbau durch ihren Erfolg jetzt ungesund gewordene, unkontrollierte, auch international organisierte Machtkonzentrationen installiert. Da sind auf der gesellschaftlichen Ebene z.B. die politischen Parteien, die, soweit im Deutschen Bundestag vertreten, in bedrohlichem Umfang oligopolistische Machtstrukturen quer durch alle Institutionen etabliert haben, die den Wettbewerb von Ideen, Personen, und die Kontrolle von Mißbrauch verhindern. Dieser bedrohliche Zustand verschlimmert sich noch zusätzlich durch ähnliche, gleichermaßen oligopolistische Strukturen im Bereich der Wirtschaft, die auch noch mit den Parteistrukturen vor allem in "privatisierten" Unternehmen und vermeintlich gemeinnützigen mächtigen Familienstiftungen verfilzt sind, die riesige Konzerne wie die Bertelsmann AG aktienrechtlich beherrschen. Diese ist nicht nur (als Stiftung) in der Politikberatung und im Bereich der politischen Medien tätig (Sperrminorität auch beim SPIEGEL über Gruner + Jahr AG), sondern verdient auch direkt an vielvältiger Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen (Arvato AG). Die Netzwerkstrukturen kann man am Beispiel von Karl-Gerhard Eick verdeutlichen: Beispielsweise ist das Kuratoriumsmitglied der Bertelsmann-Stiftung auch Aufsichtsrat der Deutschen Bank AG, war bis vor kurzem Finanzchef der Deutschen Telekom AG und auch für den Aufsichtsrat der IKB vorgesehen (er verzichtete in letzter Minute), ist jetzt Chef von Arcandor AG, und Vorsitzender des sog. Bilanz-TÜVs, der mit dem Segen der Bundesministerin der Justiz im Auftrag der BAFIN die Bilanzen der DAX-Unternehmen prüft!

Damit sind wir der Situation ausgesetzt, dass zwar auf der Ebene der Staatsorganisation noch alles zum besten scheint, jedoch durch die enormen Machtkonzentrationen netzwerkartig eine massive, gemeinwohlschädliche und eigennützige Beeinflussung aller Säulen des Staates stattfindet, also von Gesetzgebung, Regierungshandeln, Rechtssprechung und (via Eigentümer-Medienkontrolle) öffentlicher Meinung. Wie wir gerade gelernt haben, geht dies soweit, dass für das Gemeinwohl kritischste Gesetze von Rechtsanwaltskanzleien geschrieben werden, die ansonsten im Dienste der Finanzindustrie stehen - ohne dass dies die Masse der Bundestagsabgeordneten erkennbar zu kümmern scheint! Ja, meist bekommen sie es noch nicht einmal mit. Und wieder einmal scheint auch kein Staatsanwalt zu prüfen, hier, ob ein Fall von Parteiverrat vorliegt, während die beauftragende Bundesregierung noch nicht einmal ein Problembewußtsein zu haben scheint!

All diejenigen, denen das Versprechen von Demokratie und Rechtsstaat am Herzen liegt, werden dafür kämpfen müssen, dass es nicht heimlich sinnentleert wird - und damit eine der größten kulturelll-verfassungsgeschichtlichen Errungenschaften unserer Geschichte dann tatsächlich zum Schaden von uns allen nur noch Geschichte ist, gleich, was die offiziellen Redner uns erzählen.

Jedoch: Es fehlt noch die letzte, aber schlimmste Bedrohung. Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes fließt auch der noch viel ältere, uralte Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben. Wird Treu und Glauben nicht mehr geachtet, weil bedrohliche Machtkonzentrationen zum massenhaften Mißbrauch in allen drei Säulen des Staates führen, vom Parlament über die Regierung bis hin zur Justiz, geht die Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols verloren, und wir enden im zivilisatorischen Chaos, in dem jeder das Faustrecht für sich in Anspruch nimmt, ja vielleicht sogar: nehmen muß, um zu überleben. Wo sind die Politiker, die sich dieser höchst gefährlichen Herausforderung im 61. Jahr des Grundgesetzes bewußt sind und ihr stellen, und vor allem das Problem an der Wurzel anpacken?

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