Ausgewählt aus dem EU-Vertrag von Lissabon

Wir dokumentieren und kommentieren wichtige Textstellen des EU-Vertrages von Lissabon.

Vorrang europäischen Rechts

17. Erklärung zum Vorrang
Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der
Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor
dem Recht der Mitgliedstaaten haben.
Darüber hinaus hat die Konferenz beschlossen, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes des
Rates zum Vorrang in der Fassung des Dokuments 11197/07 (JUR 260) dieser Schlussakte
beigefügt wird:
"Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates
vom 22. Juni 2007
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler
des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonder-
heit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen
Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964 1) war dieser Vorrang im
Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses
Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und
an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs."
1
"Aus (...) folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle
fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten
innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als
Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst
in Frage gestellt werden soll."


Mit diesen wohl absichtsvoll komplizierten Erklärungen des EU-Dokuments auf Seite 436(!), zu denen Deutschland wie z.B. Großbritannien allerdings Vorbehalte hätte erklären können (vermutlich deswegen sind sie auch nicht integraler Bestandteil des Vertrages) sind das Grundgesetz und seine unveräusserlichen Grundrechte niederrangiges Recht, das durch jeden europäischen Rechtsakt ausgehebelt werden kann und damit zugleich das Bundesverfassungsgericht entmachtet.

Aber auch im Vertrag selbst heißt es:

DIE RECHTSAKTE DER UNION
Artikel 288 [Vertrag Arbeitsweise der Union]
(ex-Artikel 249 EGV)
Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien,
Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.
Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittel-
bar in jedem Mitgliedstaat.

...

Grundrechte gibt es nur als "gleichrangigen" Verweis

Artikel 6 [Vertrag über die Europäische Union]
(ex-Artikel 6 EUV)
(1) Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grund-
rechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg
angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich
gleichrangig.

Im Klartext: Eine hinter dem Grundgesetz zurückbleibende Charta existiert zwar, anders als im Grundgesetz ist sie jedoch nur "gleichrangig" den in den Verträgen enthaltenen wirtschaftlichen Vorschriften wie z.B. der Freiheit des Kapitalverkehrs. So wird z.B. die Menschenwürde "gleichrangig" der Freiheit des Kapitalverkehrs und ist nicht mehr wie im Grundgesetz übergeordnet. Während das Grundgesetz gegenüber der Wirtschaftsordnung von allgemeinen Grundsätzen abgesehen neutral ist, erhalten wirtschaftliche Regelungen, die eigentlich nichts in einer Verfassung oder einem Grundgesetz-ablösenden Vertrag mit Verfassungsrang zu suchen haben, plötzlich Verfassungsrang und sind damit unveränderlich. Dies kann nicht sinnvoll sein.
Daneben gibt es auch noch die europäische Menschenrechtskonvention:

(3) Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.

Es ist unklar, ob Grundrechte durchgesetzt werden können: Im Zweifel nein.

Im Absatz zwei des gleichen Artikels heißt es:
Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der
Union in keiner Weise erweitert.

Damit ist unklar, wo Grundrechte eingeklagt werden können. Es scheint so, dass es für den Bürger keine Möglichkeit mehr gibt, grundrechtswidrige EU-Gesetze durch Verfassungsbeschwerde überprüfen zu lassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist dafür vermutlich nicht zuständig, er überprüft nur die Anwendung von Gesetzen. Durch den Vorrang des europäischen Rechts können verfassungswidrige EU-Gesetze auf jeden Fall nicht mehr vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall gebracht werden.

Das Europäische Parlament wird nicht allgemein und gleich gewählt

Artikel 14 [Vertrag über die Europäische Union]

(2) Das Europäische Parlament setzt sich aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unions-
bürger zusammen. Ihre Anzahl darf 750 nicht überschreiten, zuzüglich des Präsidenten. Die Bürge-
rinnen und Bürger sind im Europäischen Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch mit
sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten. Kein Mitgliedstaat erhält mehr als 96 Sitze.

Der Kampf um die Demokratie im 19. Jahrhundert bescherte uns bis heute das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht. Das berüchtigte preussische Dreiklassenwahlrecht (Stimmgewichte nach Einkommen) wurde schließlich abgeschafft. Die Europäische Union kehrt zurück ins 19. Jahrhundert und hat im Parlament ein Klassenwahlrecht neuer Art: Stimmen aus Luxemburg zählen ein Vielfaches mehr als Stimmen aus Deutschland. Schon deshalb ist es kein demokratisch legitimiertes Parlament.

Gesetzgebung durch die Regierungsvertreter und ohne Gewaltenteilung

Artikel 14, Abs. 1 Satz 1 [Vertrag über die Europäische Union]
Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig ...

Artikel 15, Abs. 1 [Vertrag über die Europäische Union]
(1) Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt
die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest. Er wird nicht gesetzgebe-
risch tätig.

Noch nicht einmal widerspruchsfrei ist er, der Vertrag von Lissabon. Natürlich ist der faktische Gesetzgeber der Rat (der Regierungschefs), ein klarer Verstoß gegen bewährte Grundsätze der Gewaltenteilung. Denn wird das Parlament nicht aktiv, erlangen die Ratsbeschlüsse automatisch Gesetzeskraft. Dazu muss man auch noch wissen, dass der Europäische Rat, der soviel Macht hat, in verschiedenen Zusammensetzungen tagt: Oft sind es gar nicht die Regierungschefs, die entscheiden, sondern auch oft Fachminister oder schlicht Ministerialbeamte! Vielleicht sind die auch gerade als Lobbyisten von Firmen als "Leihbeamte" in die Regierung entsandt. Das würde vieles erklären.

Artikel 289 [Vertrag Arbeitsweise der Union]
(1) Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren besteht in der gemeinsamen Annahme einer Verord-
nung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament und den Rat auf
Vorschlag der Kommission. Dieses Verfahren ist in Artikel 294 festgelegt.
...
Artikel 294 [Vertrag Arbeitsweise der Union]
(ex-Artikel 251 EGV)
(1) Wird in den Verträgen hinsichtlich der Annahme eines Rechtsakts auf das ordentliche Gesetz-
gebungsverfahren Bezug genommen, so gilt das nachstehende Verfahren.
(2) Die Kommission unterbreitet dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag.
Erste Lesung
(3) Das Europäische Parlament legt seinen Standpunkt in erster Lesung fest und übermittelt ihn
dem Rat.
(4) Billigt der Rat den Standpunkt des Europäischen Parlaments, so ist der betreffende Rechtsakt
in der Fassung des Standpunkts des Europäischen Parlaments erlassen.
(5) Billigt der Rat den Standpunkt des Europäischen Parlaments nicht, so legt er seinen Stand-
punkt in erster Lesung fest und übermittelt ihn dem Europäischen Parlament.
(6) Der Rat unterrichtet das Europäische Parlament in allen Einzelheiten über die Gründe, aus
denen er seinen Standpunkt in erster Lesung festgelegt hat. Die Kommission unterrichtet das Euro-
päische Parlament in vollem Umfang über ihren Standpunkt.
Zweite Lesung
(7) Hat das Europäische Parlament binnen drei Monaten nach der Übermittlung
a) den Standpunkt des Rates in erster Lesung gebilligt oder sich nicht geäußert, so gilt der betref-
fende Rechtsakt als in der Fassung des Standpunkts des Rates erlassen;
b) den Standpunkt des Rates in erster Lesung mit der Mehrheit seiner Mitglieder abgelehnt, so
gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen;
c) mit der Mehrheit seiner Mitglieder Abänderungen an dem Standpunkt des Rates in erster
Lesung vorgeschlagen, so wird die abgeänderte Fassung dem Rat und der Kommission zuge-
leitet; die Kommission gibt eine Stellungnahme zu diesen Abänderungen ab.
(8) Hat der Rat binnen drei Monaten nach Eingang der Abänderungen des Europäischen Parla-
ments mit qualifizierter Mehrheit
a) alle diese Abänderungen gebilligt, so gilt der betreffende Rechtsakt als erlassen;
b) nicht alle Abänderungen gebilligt, so beruft der Präsident des Rates im Einvernehmen mit dem
Präsidenten des Europäischen Parlaments binnen sechs Wochen den Vermittlungsausschuss
ein.
(9) Über Abänderungen, zu denen die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben
hat, beschließt der Rat einstimmig.
Vermittlung
(10) Der Vermittlungsausschuss, der aus den Mitgliedern des Rates oder deren Vertretern und
ebenso vielen das Europäische Parlament vertretenden Mitgliedern besteht, hat die Aufgabe, mit
der qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Rates oder deren Vertretern und der Mehrheit der das
Europäische Parlament vertretenden Mitglieder binnen sechs Wochen nach seiner Einberufung eine
Einigung auf der Grundlage der Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates in zweiter
Lesung zu erzielen.
(11) Die Kommission nimmt an den Arbeiten des Vermittlungsausschusses teil und ergreift alle
erforderlichen Initiativen, um auf eine Annäherung der Standpunkte des Europäischen Parlaments
und des Rates hinzuwirken.
(12) Billigt der Vermittlungsausschuss binnen sechs Wochen nach seiner Einberufung keinen
gemeinsamen Entwurf, so gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen.
Dritte Lesung
(13) Billigt der Vermittlungsausschuss innerhalb dieser Frist einen gemeinsamen Entwurf, so
verfügen das Europäische Parlament und der Rat ab dieser Billigung über eine Frist von sechs
Wochen, um den betreffenden Rechtsakt entsprechend diesem Entwurf zu erlassen, wobei im
Europäischen Parlament die Mehrheit der abgegebenen Stimmen und im Rat die qualifizierte
Mehrheit erforderlich ist. Andernfalls gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen.
(14) Die in diesem Artikel genannten Fristen von drei Monaten beziehungsweise sechs Wochen
werden auf Initiative des Europäischen Parlaments oder des Rates um höchstens einen Monat
beziehungsweise zwei Wochen verlängert.
Besondere Bestimmungen
(15) Wird in den in den Verträgen vorgesehenen Fällen ein Gesetzgebungsakt auf Initiative einer
Gruppe von Mitgliedstaaten, auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Antrag des
Gerichtshofs im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so finden Absatz 2, Absatz 6 Satz
und Absatz 9 keine Anwendung.
In diesen Fällen übermitteln das Europäische Parlament und der Rat der Kommission den Entwur
des Rechtsakts sowie ihre jeweiligen Standpunkte in erster und zweiter Lesung. Das Europäische
Parlament oder der Rat kann die Kommission während des gesamten Verfahrens um eine Stellung
nahme bitten, die die Kommission auch von sich aus abgeben kann. Sie kann auch nach Maßgabe
des Absatzes 11 an dem Vermittlungsausschuss teilnehmen, sofern sie dies für erforderlich hält.

Verfassungsänderungen aber macht der Rat gerne alleine! [update 16.6.08]

Bei Verfassungsänderungen, also Vertragsänderungen, ist das Europäische Parlament auch schon im sogenannten "ordentlichen Verfahren" außen vor. Der sogenannte "Konvent" wird nicht etwa demokratisch gewählt, sondern seine Mitglieder werden autoritär vom Ratspräsident berufen!

Artikel 48 [Vertrag Europäische Union]
(ex-Artikel 48 EUV)
(1) Die Verträge können gemäß dem ordentlichen Änderungsverfahren geändert werden. Sie
können ebenfalls nach vereinfachten Änderungsverfahren geändert werden.

Ordentliches Änderungsverfahren
(2) Die Regierung jedes Mitgliedstaats, das Europäische Parlament oder die Kommission kann
dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge vorlegen. Diese Entwürfe können unter anderem eine
Ausdehnung oder Verringerung der der Union in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten zum
Ziel haben. Diese Entwürfe werden vom Rat dem Europäischen Rat übermittelt und den nationalen
Parlamenten zur Kenntnis gebracht.
(3) Beschließt der Europäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kom-
mission mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen, so beruft der Präsi-
dent des Europäischen Rates einen Konvent von Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats-
und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission ein.
Bei institutionellen Änderungen im Währungsbereich wird auch die Europäische Zentralbank
gehört. Der Konvent prüft die Änderungsentwürfe und nimmt im Konsensverfahren eine Empfeh-
lung an, die an eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten nach Absatz 4
gerichtet ist.
Der Europäische Rat kann mit einfacher Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments
beschließen, keinen Konvent einzuberufen, wenn seine Einberufung aufgrund des Umfangs der
geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist. In diesem Fall legt der Europäische Rat das Mandat
für eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten fest.
(4) Eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten wird vom Präsidenten des
Rates einberufen, um die an den Verträgen vorzunehmenden Änderungen zu vereinbaren.
Die Änderungen treten in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer ver-
fassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind.
(5) Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung eines Vertrags zur Änderung
der Verträge vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag ratifiziert und sind in einem
Mitgliedstaat oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten, so
befasst sich der Europäische Rat mit der Frage.

Es kommt aber noch besser. Verfassungs-, also Vertragsänderungen, die ja Verfassungscharakter haben, sind auch im sogenannten "einfachen Verfahren" möglich, solange der formale Zuständigkeitsrahmen gegenüber den Mitgliedstaaten unverändert bleibt.

Vereinfachte Änderungsverfahren
(6) Die Regierung jedes Mitgliedstaats, das Europäische Parlament oder die Kommission kann
dem Europäischen Rat Entwürfe zur Änderung aller oder eines Teils der Bestimmungen des Dritten
Teils des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union über die internen Politikbereiche
der Union vorlegen.
Der Europäische Rat kann einen Beschluss zur Änderung aller oder eines Teils der Bestimmungen
des Dritten Teils des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erlassen. Der Euro-
päische Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommis-
sion sowie, bei institutionellen Änderungen im Währungsbereich, der Europäischen Zentralbank.
Dieser Beschluss tritt erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen
verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft.
Der Beschluss nach Unterabsatz 2 darf nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der
Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen.
(7) In Fällen, in denen der Rat nach Maßgabe des Vertrags über die Arbeitsweise der Euro-
päischen Union oder des Titels V dieses Vertrags in einem Bereich oder in einem bestimmten Fall
einstimmig beschließt, kann der Europäische Rat einen Beschluss erlassen, wonach der Rat in
diesem Bereich oder in diesem Fall mit qualifizierter Mehrheit beschließen kann. Dieser Unter-
absatz gilt nicht für Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen.
Jede vom Europäischen Rat auf der Grundlage von Unterabsatz 1 oder Unterabsatz 2 ergriffene
Initiative wird den nationalen Parlamenten übermittelt. Wird dieser Vorschlag innerhalb von sechs
Monaten nach der Übermittlung von einem nationalen Parlament abgelehnt, so wird der Beschluss
nach Unterabsatz 1 oder Unterabsatz 2 nicht erlassen. Wird die Initiative nicht abgelehnt, so kann
der Europäische Rat den Beschluss erlassen.
Der Europäische Rat erlässt die Beschlüsse nach den Unterabsätzen 1 oder 2 einstimmig nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt.

Diese komplizierten Regelungen bedeuten, dass sogar Gesetzgebung mit Vertrags-, d.h. verfassungsänderndem Charakter prinzipiell ohne Befassung der nationalen Parlamente möglich wird und in den Fällen von Absatz (7) vom Europäischen Rat, das sind die Regierungschefs Europas, alleine durchgezogen werden kann, wenn das Europäische Parlament keine Mehrheit dagegen zusammenbringt. Jedoch sagt Abs. (6), dass nach Anhörung von Europäischem Parlament und Kommission sogar alleine entschieden werden kann! Es ist dieser Punkt, der die böse Debatte über das EU-"Ermächtigungsgesetz" ausgelöst hat. Denn in jenem Gesetz hieß es:

Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich (Ermächtigungsgesetz) vom 23.3.1933

1. Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. Dies gilt auch für die in den Artikeln 85 II und 87 der Reichsverfassung bezeichneten Gesetze.
2. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt.
3. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichskanzler ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft. Die Artikel 68 bis 77 der Reichsverfassung finden auf die von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze keine Anwendung.
4. Verträge des Reiches mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen für die Dauer der Geltung dieser Gesetze nicht der Zustimmung der an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften. Die Reichsregierung erläßt die zur Durchführung dieser Verträge erforderlichen Vorschriften.
5. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 1937 außer Kraft, es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird.

Reichsgesetzblatt T. I. (1933), Nr. 25, S. 141

Die Ermächtigung nach Abs. 6 ist dem Reichsgesetz verdammt ähnlich. Aber unabhängig davon lassen allein schon die nahezu unverständlichen Komplexitäten der Vorschriften bei so sensiblen Dingen wie Vertragsänderungen verfassungsrechtlichen Charakters einem die Haare zu Berge stehen.

Wahl und Abwahl der Kommission

Die Befugnisse des Europäischen Parlaments bei der Wahl der "Regierung", der EU Kommission, sind sehr beschränkt.
Vor allem ist sie kaum abwählbar. Dies war bei der ursprünglichen Konzeption der EU Kommission vor allem als Wettbewerbsbehörde sinnvoll. Für ein demokratisches Europa mit erweiterten Kompetenzen taugt das nicht. Statt dessen wird an anderer Stelle der Posten eines unabhängigen Ratspräsidenten geschaffen - der eine Art EU-Präsident wird, aber überhaupt nicht vom Parlament gewählt ist.

Artikel 14 [Vertrag über die EU]
(1) Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig und übt
gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Es erfüllt Aufgaben der politischen Kontrolle
und Beratungsfunktionen nach Maßgabe der Verträge. Es wählt den Präsidenten der Kommission.

In der Vergangenheit geschah dies jedoch stets per Akklamation. Und bei der Abwahl wird die geheime Wahl, ein grundlegendes Element der parlamentarischen Demokratie, gleich ausdrücklich verboten - unglaublich, abgesehen davon, dass 2/3 der Stimmen benötigt werden.

Artikel 234 [Vertrag Arbeitsweise EU]
(ex-Artikel 201 EGV)
Wird wegen der Tätigkeit der Kommission ein Misstrauensantrag eingebracht, so darf das Euro-
päische Parlament nicht vor Ablauf von drei Tagen nach seiner Einbringung und nur in offener
Abstimmung darüber entscheiden.
Wird der Misstrauensantrag mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit
der Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments angenommen, so legen die Mitglieder der
Kommission geschlossen ihr Amt nieder, und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicher-
heitspolitik legt sein im Rahmen der Kommission ausgeübtes Amt nieder. Sie bleiben im Amt und
führen die laufenden Geschäfte bis zu ihrer Ersetzung nach Artikel 17 des Vertrags über die Euro-
päische Union weiter. In diesem Fall endet die Amtszeit der zu ihrer Ersetzung ernannten Mitglie-
der der Kommission zu dem Zeitpunkt, zu dem die Amtszeit der Mitglieder der Kommission, die
ihr Amt geschlossen niederlegen mussten, geendet hätte.

Artikel 15 [Vertrag über die EU]
(5) Der Europäische Rat wählt seinen Präsidenten mit qualifizierter Mehrheit für eine Amtszeit
von zweieinhalb Jahren; der Präsident kann einmal wiedergewählt werden. Im Falle einer Verhinde-
rung oder einer schweren Verfehlung kann der Europäische Rat ihn im Wege des gleichen Verfah-
rens von seinem Amt entbinden.
(6) Der Präsident des Europäischen Rates
a) führt den Vorsitz bei den Arbeiten des Europäischen Rates und gibt ihnen Impulse,
sorgt in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kommission auf der Grundlage der
b)
Arbeiten des Rates "Allgemeine Angelegenheiten" für die Vorbereitung und Kontinuität
der Arbeiten des Europäischen Rates,
c) wirkt darauf hin, dass Zusammenhalt und Konsens im Europäischen Rat gefördert werden,
d) legt dem Europäischen Parlament im Anschluss an jede Tagung des Europäischen Rates einen
Bericht vor.
Der Präsident des Europäischen Rates nimmt auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft, unbescha-
det der Befugnisse des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Außen-
vertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahr.
Der Präsident des Europäischen Rates darf kein einzelstaatliches Amt ausüben.

Von einzelnen Sonderregelungen abgesehen, darf allein die EU Kommission Gesetze vorschlagen, das Parlament nicht.

Artikel 17 [Vertrag über die EU]
(2) Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt der Union
nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden. Andere Rechtsakte werden auf der Grundlage
eines Kommissionsvorschlags erlassen, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist.

Neue europäische Steuern?

Die Formulierungen sind unklar, können aber den Schluß zulassen, dass durch Beschluß des Ministerrats auf EU-Ebene Steuern eingeführt werden können.

KAPITEL 1
DIE EIGENMITTEL DER UNION
Artikel 311
(ex-Artikel 269 EGV)
Die Union stattet sich mit den erforderlichen Mitteln aus, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik
durchführen zu können.
Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert.
Der Rat erlässt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung
des Europäischen Parlaments einen Beschluss, mit dem die Bestimmungen über das System der
Eigenmittel der Union festgelegt werden. Darin können neue Kategorien von Eigenmitteln einge-
führt oder bestehende Kategorien abgeschafft werden. Dieser Beschluss tritt erst nach Zustimmung
der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft.
Der Rat legt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen Durchfüh-
rungsmaßnahmen zu dem System der Eigenmittel der Union fest, sofern dies in dem nach Absatz 3
erlassenen Beschluss vorgesehen ist. Der Rat beschließt nach Zustimmung des Europäischen Par-
laments.
Ein "Beschluss der Mitgliedsstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften" bedeutet nicht zwangsläufig, dass das nationale Parlament zustimmen muß!

Europäischer Gerichtshof

Artikel 19
(1) Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fach-
gerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.
Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz
in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.
(2) Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat. Er wird von Generalanwälten
unterstützt.
Das Gericht besteht aus mindestens einem Richter je Mitgliedstaat.
Als Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs und als Richter des Gerichts sind Persönlichkeiten
auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und die Voraussetzungen der Artikel 253
und 254 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllen. Sie werden von den
Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen für eine Amtszeit von sechs
Jahren ernannt. Die Wiederernennung ausscheidender Richter und Generalanwälte ist zulässig.

Also die Regierungen, nicht die Volksvertreter berufen die Mitglieder des Gerichts. Der Nationalitätenproporz sorgt dafür, dass das deutsche Rechtssystem im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und der damit verbundenen Rechtsanwendung völlig unterrepräsentiert ist.

Fazit: Künstlich geschaffene Komplexität verhindert "Effizienz"

Als vorläufiges Fazit dieser wenigen ausgewählten Vorschriften läßt sich jedenfalls festhalten: Allein das Ausmaß hier künstlich geschaffener Komplexität spricht gegen den angeblich "effizienteren" Vertrag von Lissabon. Das Grundproblem besteht darin, dass eine mit einer unabhängigen Kartellbehörde ausgestattete Wirtschaftsgemeinschaft zu einem EU-Staat mit Regierung umfunktioniert werden soll, ohne dass dabei unverzichtbare verfassungsrechtliche Grundsätze beachtet worden sind. Diese zu verwirklichen, dürfte nur bei einer völlig neu konzipierten Verfassung möglich sein. Der Kompromiß aus Wirtschaftsgemeinschaft und nicht überall gewollter Europa-Union als Bundesstaat hat eine völlige verfassungsrechtliche Mißgeburt geschaffen: Den Vertrag von Lissabon, der für die Bürger der EU untragbar ist.

Wie sagte Albert Einstein:

Alles sollte so einfach wie möglich gemacht sein, aber nicht einfacher.

Auf diesem Weg gibt es offenbar viel zu tun.

siehe auch: Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag von Lissabon (MdB Dr. Gauweiler)
siehe auch: Artikel von Prof. von Arnim in der NJW (2007)
siehe auch (update 23.6.2008): Amtliche Fassungen der Verträge im Amtsblatt der Europäischen Union

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