Erweiterter Eilantrag in Sachen "Vorratsdatenspeicherung" hat zum Teil Erfolg

[Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts] Karlsruhe.Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 28.Oktober 2008 einem Antrag auf Erlass einer erweiterten einstweiligenAnordnung bezüglich der Regelungen über die Vorratsdatenspeicherung vonTelekommunikations-Verkehrsdaten teilweise stattgegeben.
§ 113a des Telekommunikationsgesetzes (TKG) sieht vor, dass alle
Verkehrsdaten, die bei der Inanspruchnahme von
Telekommunikationsdiensten entstehen, von den Anbietern der Dienste
jeweils für sechs Monate zu speichern sind. Dies gilt für
Telefondienste ebenso wie für Internetzugangsdienste und
E-Mail-Dienste. Die anlasslos auf Vorrat gespeicherten Daten dürfen von
den Diensteanbietern an die zuständigen Behörden zur Strafverfolgung (§
113b Satz 1 Nr. 1 TKG), zur Abwehr von erheblichen Gefahren für die
öffentliche Sicherheit (§ 113b Satz 1 Nr. 2 TKG) und zur Erfüllung der
Aufgaben des Verfassungsschutzes, des Bundesnachrichtendienstes und des
Militärischen Abschirmdienstes (§ 113b Satz 1 Nr. 3 TKG) übermittelt
werden. Gesetzliche Voraussetzung für die Übermittlung der Daten ist,
dass die betreffenden Behörden jeweils durch eine Rechtsgrundlage zum
Abruf ermächtigt sind, die auf § 113a TKG Bezug nimmt. Eine solche
Abrufnorm existierte zunächst nur hinsichtlich der Strafverfolgung.

Mit Beschluss vom 11. März 2008 (verlängert durch Beschluss vom 1.
September 2008) hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf
Antrag der Beschwerdeführer eine einstweilige Anordnung erlassen, nach
der die Übermittlung der Vorratsdaten zu Strafverfolgungszwecken nach §
113b Satz 1 Nr. 1 TKG bis zu einer Entscheidung über die
Verfassungsbeschwerde nur gemäß den in der einstweiligen Anordnung
vorgesehenen Maßgaben erfolgen darf (Pressemitteilung Nr. 37/2008 vom
19. März 2008). Ein Anlass zur Erstreckung der einstweiligen Anordnung
auf § 113b Satz 1 Nr. 2 und 3 TKG bestand damals nicht, weil weder im
Bereich der Gefahrenabwehr noch des Verfassungsschutzes und der
Nachrichtendienste Rechtsgrundlagen für einen Abruf der nach § 113a TKG
gespeicherten Vorratsdaten vorhanden waren.

Der Gesetzgeber des Freistaats Bayern hat inzwischen mit dem Gesetz zur
Änderung des Polizeiaufgabengesetzes vom 8. Juli 2008 und dem Gesetz
zur Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes, des
Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz und des Parlamentarischen
Kontrollgremium-Gesetzes vom 8. Juli 2008 sowohl das
Polizeiaufgabengesetz (BayPAG) als auch das Verfassungsschutzgesetz
(BayVSG) geändert. Art. 34b Abs. 2 und Abs. 3 BayPAG und Art. 6c Abs. 2
BayVSG verweisen nunmehr auf § 113a TKG und gestatten den behördlichen
Zugriff auf die nach dieser Regelung zu speichernden Daten auch zur
Gefahrenabwehr und zur Erfüllung der Aufgaben des Verfassungsschutzes.
Insbesondere darauf stützen die Beschwerdeführer ihren erneuten Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Für den Bereich der Abwehr
von Gefahren für die öffentliche Sicherheit enthält nunmehr auch das
Thüringer Polizeiaufgabengesetz (ThürPAG) in § 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3
in Verbindung mit § 34a Abs. 3 ThürPAG eine entsprechende Regelung.
Der erneute und erweiterte Eilantrag der Beschwerdeführer hatte
teilweise Erfolg. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts
verlängerte zunächst die einstweilige Anordnung vom 11. März 2008
(bereits verlängert durch Beschluss vom 1. September 2008) für die
Dauer von sechs Monaten. Gleichzeitig erweiterte er die einstweilige
Anordnung dahingehend, dass die nach § 113a TKG auf Vorrat
gespeicherten Daten für die Gefahrenabwehr (§ 113b Satz 1 Nr. 2 TKG)
von den Telekommunikationsdiensteanbietern nur unter einschränkenden
Bedingungen an die ersuchende Behörde übermittelt werden dürfen. Eine
Übermittlung ist nur zulässig, wenn - zusätzlich zu den Voraussetzungen
der Abrufnorm (z.B. Art. 34b Abs. 1 und Abs. 2 BayPAG) - der Abruf der
Daten zur Abwehr einer dringenden Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines
Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr erforderlich ist. Die
übermittelten Daten dürfen nur zu den Zwecken verwendet werden, zu
denen sie abgerufen wurden. Zur Strafverfolgung dürfen sie nur
weitergeleitet oder verwendet werden, wenn Gegenstand der
Strafverfolgungsmaßnahme eine Katalogtat im Sinne von § 100a Abs. 2
StPO ist und die Voraussetzungen des § 100a Abs. 1 StPO vorliegen. Für
Aufgaben des Verfassungsschutzes (§ 113b Satz 1 Nr. 3 TKG) gilt, dass
im Falle eines Abrufs die Daten nur dann an die ersuchende Behörde
übermittelt werden dürfen, wenn neben den Voraussetzungen der Abrufnorm
(z.B. Art. 6c Abs. 2 BayVSG) auch die Voraussetzungen von § 1 Abs. 1, §
3 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnisses (Art. 10-Gesetz) vorliegen. Außerdem dürfen die
übermittelten Daten nur zu den Zwecken verwendet werden, zu denen sie
abgerufen worden sind. Anderen Behörden dürfen sie nur nach Maßgabe des
§ 4 Abs. 4 G 10 übermittelt werden. Der darüber hinausgehende Antrag
der Beschwerdeführer wurde abgelehnt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Hinsichtlich der Nutzung der nach § 113a TKG zu speichernden Daten
bleibt es, soweit eine solche Nutzung bereits Gegenstand der
Entscheidung des Senats vom 11. März 2008 war, bei der bisherigen
Beurteilung. Die einstweilige Anordnung ist daher in unverändertem
Umfang zu verlängern. Die bisherige einstweilige Anordnung ist
auch nicht im Hinblick darauf zu erweitern, dass die nach § 113a
TKG gespeicherten Daten gemäß § 113b Satz 1 Halbsatz 2 TKG nach
der gegenwärtigen Rechtsauslegung und praxis auch zur Erteilung
von Auskünften nach § 113 TKG (sogenannte Bestandsdatenauskunft)
verwendet werden. Zwar wirft auch diese Nutzung Rechtsfragen auf,
die im Hauptsacheverfahren näherer Prüfung bedürfen. Das
Vorbringen der Beschwerdeführer gibt aber keinen Anlass, im Rahmen
der Folgenabwägung nunmehr zu einem anderen Ergebnis zu kommen und
eine Nutzung dieser Daten im Wege der einstweiligen Anordnung
vorläufig auszusetzen. Erfolglos blieb auch der Antrag auf
Verlängerung der zum 1. Januar 2009 auslaufenden Übergangsregelung
des § 150 Abs. 12b TKG, nach der Anbieter von
Internetzugangsdiensten, E-mail-Diensten u.a. von der
Speicherungspflicht des § 113a TKG vorläufig noch ausgenommen
sind.

II. Der Antrag hat jedoch teilweise Erfolg, soweit er sich gegen die -
durch Art. 34b Abs. 3 BayPAG und § 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 ThürPAG
nun erheblich gewordene - Nutzung der Daten für die Gefahrenabwehr
nach § 113b Satz 1 Nr. 2 TKG richtet. Durch die Schaffung der
neuen Abrufnormen können nicht mehr nur die
Strafverfolgungsbehörden, sondern auch die im Bereich der
Gefahrenabwehr tätigen Polizeibehörden weitreichende Erkenntnisse
über das Kommunikationsverhalten und die sozialen Kontakte der
Betroffenen erlangen. Dabei werden neben der eigentlichen
Zielperson des Auskunftsersuchens möglicherweise auch Personen
erfasst, die in keiner Beziehung zu den den Datenabruf
rechtfertigenden Gründen stehen und auch sonst keinen Anlass für
den damit verbundenen Grundrechtseingriff gegeben haben. Ins
Gewicht fällt dabei, dass die durch die Vorschrift ermöglichte
Nutzung der Daten sehr weit reicht und nur durch die nicht
spezifizierte Voraussetzung der "Erheblichkeit", eingeschränkt
wird. Durch den größer gewordenen Kreis abrufberechtigter Behörden
und die Erweiterung des zulässigen Abrufszwecks erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit für den Betroffenen, auf der Grundlage der
durch einen Vorratsdatenabruf erlangten Erkenntnisse weiteren
polizeilichen Maßnahmen wie Telekommunikationsüberwachungen,
Beschlagnahmen und Wohnungsdurchsuchungen ausgesetzt zu werden,
die ohne diese Erkenntnisse nicht durchgeführt worden wären.
Dadurch wird das Vertrauen in die allgemeine Unbefangenheit des
elektronischen Informations und Gedankenaustauschs sowie das
Vertrauen in den durch Art. 10 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz
der Telekommunikation in erheblichem Maße eingeschränkt. Die mit
dem Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Nachteile,
dass sich durch die Nichterhebung von Daten erhebliche Gefahren
verwirklichen, die mit Hilfe von erhobenen Daten hätten womöglich
abgewendet werden können, müssen im Rahmen der vorzunehmenden
Folgenabwägung insoweit zurücktreten, als die Daten nicht zur
Abwehr einer dringenden Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer
Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines
Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr dienen. Insoweit ist
auf das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter, nicht auf
Straftatenkataloge abzustellen. Außerdem muss die Beachtung dieser
Voraussetzungen verfahrensrechtlich dadurch abgesichert werden,
dass - wie in den Abrufnomen vorgesehen - der Datenabruf außer bei
Gefahr im Verzug durch einen Richter angeordnet wird. Eine
Änderung des Verwendungszwecks mit dem Ziel einer Nutzung der
Daten für die Strafverfolgung ist nur zulässig, wenn - neben den
Maßgaben entsprechender gesetzlicher Bestimmungen - die
Voraussetzungen des § 100a Abs. 1 und 2 StPO vorliegen.

III. Teilweise Erfolg hat der Antrag auch, soweit er sich gegen eine
Datenübermittlung für Aufgaben des Verfassungsschutzes, des
Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes
gemäß § 113b Satz 1 Nr. 3 TKG richtet. Der Anwendungsbereich
dieser Vorschrift eröffnet im Vergleich zu den
Zugriffsmöglichkeiten im Rahmen der Strafverfolgung und
Gefahrenabwehr ein grundlegend weiteres, nur schwer überschaubares
und eingrenzbares Feld. Erwiese sich im Hauptsacheverfahren die
Übermittlung anlasslos bevorrateter Verkehrsdaten als
verfassungswidrig, wären die bevorrateten Verkehrsdaten in
verfassungswidriger Weise einem weitreichenden Zugriff der
Behörden schon im Vorfeld jeglicher konkreten Gefahr oder Straftat
ausgesetzt. Das Risiko, ohne selbst Anlass gesetzt zu haben, in
den Fokus der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu geraten,
wäre hierbei erheblich. Ergeht hingegen eine einstweilige
Anordnung, erweist sich aber später, dass der hierdurch außer
Kraft gesetzte Zugriff auf die bevorrateten Verkehrsdaten
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, liegt der Nachteil
in dem Verlust von Informationen, die den
Verfassungsschutzbehörden ein genaueres Bild der gemäß Art. 3 Abs.
1 BayVSG zu beobachtenden Bestrebungen erlauben und es damit auf
längere Sicht auch ermöglichen, solche wirksamer zu bekämpfen. Zu
den in Frage stehenden Schutzgütern zählen dabei auch solche von
elementarer Bedeutung. Allerdings mindern sich diese Nachteile
dadurch, dass die Verfassungsschutzbehörden grundsätzlich nur im
Vorfeld von Gefahren, zur Sammlung und Auswertung von Information
tätig werden und eine Aussetzung der Übermittlung der
Verkehrsdaten damit jedenfalls nicht in erheblichem Maße zu
unmittelbaren Sicherheitsrisiken führen wird. Denn die
Gefahrenabwehr selbst obliegt den dafür zuständigen
Sicherheitsbehörden. Insgesamt wiegt der Nachteil einer
einstweiligen Anordnung im Anwendungsbereich von § 113b Satz 1 Nr.
3 TKG deutlich geringer als in Bezug auf Zugriffe auf bevorratete
Verkehrsdaten zur Strafverfolgung und Gefahrenabwehr, bei denen es
unmittelbar um die Verhinderung drohender oder die Ahndung
tatsächlich erfolgter Rechtsgutverletzungen geht. Die
Folgenabwägung führt hier deshalb ebenfalls zu dem Ergebnis, dass
die Datenübermittlung teilweise einzuschränken ist. Eine
einstweilige Anordnung ist allerdings nicht in einer umfassenden
Weise geboten, die die Übermittlung der nach § 113a TKG
gespeicherten Daten an die Verfassungsschutzbehörden überhaupt
ausschlösse. Sofern bei einer Abfrage nach § 113b Satz 1 Nr. 3 TKG
die Voraussetzungen der § 1 Abs. 1, § 3 des Artikel 10-Gesetzes
vorliegen, führt die Folgenabwägung vielmehr zu dem Ergebnis, dass
eine gesetzlich angeordnete Übermittlung dieser Daten nach § 113b
Satz 1 Nr. 3 TKG bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig
hinzunehmen ist. Der Gesetzgeber hat mit § 1 Abs. 1, § 3 G 10 eine
Regelung getroffen, nach der auch bisher schon Eingriffe in Art.
10 Abs. 1 GG seitens der Verfassungsschutzbehörden zulässig waren.
Im Rahmen der vorliegend gebotenen Nachteilsabwägung ist es
angemessen, für Fälle, in denen die in § 1 Abs. 1, § 3 G 10
genannten Voraussetzungen vorliegen, bis zur Entscheidung des
Senats in der Hauptsache auch die Übermittlung der nach § 113a TKG
gespeicherten Verkehrsdaten zur Erfüllung der Aufgaben des
Verfassungsschutzes hinzunehmen und die damit verbundenen
Nachteile für die Betroffenen dem Zugewinn an Aufklärung über
solche besonders gewichtigen Bedrohungen nachzuordnen. Eine
darüber hinausgehende Übermittlung und Nutzung der nach § 113a TKG
auf Vorrat gespeicherten Daten an die Verfassungsschutzbehörden
ist demgegenüber vorläufig unzulässig.

Quelle:

Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 92/2008 vom 06. November 200 8
Beschluss vom 28. Oktober 2008 – 1 BvR 256/08

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