Der kalte Staatsstreich

Der Deutsche Bundestag hat vergangene Woche dem EU-Vertrag von Lissabon und damit einhergehenden Grundgesetzänderungen zugestimmt. Ohne dass die Abgeordneten, die Presse, und vielleicht auch nicht alle EU-Regierungschefs dies verstanden haben dürften, handelt es sich dabei um einen versuchten kalten Staatsstreich, den wir hier auch wegen seiner inneren Verwandtschaft zu zahlreichen Themen dieses Blogs kommentieren. Denn die damit einhergehende Selbstentmachtung der nationalen Parlamente bei fehlender demokratischer Kontrolle in Brüssel - das Europäische Parlament hat kaum harte Befugnisse - macht den Weg frei für schrankenlosen Lobbyismus bis hin zur weitgehenden Aushebelung der Grundrechte, die künftig in die Disposition anonymer Brüsseler Eurokraten gestellt werden.

Es ist ja kein Zufall, dass derzeit vor allem in Brüssel geborene Gesetzesvorhaben und Regelungen auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichtes stehen. So hat das Initiativrecht für Gesetze dann allein die EU-Kommission, der Rat der Regierungschefs beschließt, auch über die künftige Ausweitung seiner eigenen Kompetenzen zu Lasten der Nationalparlamente. Dabei können auch die Menschen- und Bürgerrechte durch einfachen Ratsbeschluß verändert oder abgeschafft werden, denn das EU-Recht genießt künftig Vorrang. Und  der Europäische Gerichtshof unterliegt keinem Grundrechtsvorrang wie im Grundgesetz, dort haben aufgrund der EG-Historie als Wirtschaftsgemeinschaft der freie Kapitalverkehr und Wettbewerb eine viel höhere Priorität als Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Menschenwürde oder auch die Tarifautonomie mit dem Streikrecht. Wie konnte es soweit kommen?

EU-Verfassung durch die Hintertür

Zunächst: Wir möchten nicht mißverstanden werden. Der europäische Einigungsprozess ist vor allem für Deutschland bisher ein Segen gewesen, für die Deutschen auch ein Stück weit Surrogat für den Verlust der nationalen Identität durch die unselige  Historie Hitler-Deutschlands. Deshalb wurde die Kritik am Mangel von Demokratie und Transparenz in der Europäischen Union gerne in die rechtsnationale Ecke geschoben, anstatt sich mit ihr inhaltlich auseinanderzusetzen. Sicherlich kann man für die Errungenschaft, dass sich die europäischen Völker nicht mehr gegenseitig den Schädel einschlagen, viele Kompromisse eingehen - der Euro mag noch angehen, die Abschaffung des Demokratieprinzips und der bewährten Grundrechte durch die Hintertür gehört aber genau nicht dazu. Denn auf längere Sicht wird genau das dazu führen, dass Europa dann zu Recht mit undemokratischen Verhältnissen gleichgesetzt und deshalb von seinen Völkern abgelehnt werden wird! Ja, eine EU-Verfassung wäre schön, aber nicht ohne festen Grundrechtsschutz und echtes Parlament. Dann ist der Bund demokratischer Staaten Europas, die selbst eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit haben,  tausendmal besser. Was ist nun geschehen?

Üble Trickserei mit unverständlichen Gesetzestexten verhindert bisher öffentliche Diskussion der Knackpunkte

Offenkundig haben sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages - wie auch die anderer Nationen - von ihren Regierungen, die vielleicht auch von Brüsseler Bürokraten getäuscht wurden - komplett austricksen lassen und ein haarsträubendes verfassungsänderndes Gesetz beschlossen, dem nun noch der Bundesrat ebenfalls mit verfassungsändernder 2/3 Mehrheit am 23. Mai zustimmen, und der Bundespräsident danach es auszufertigen hat. Auch die Expertenanhörung im Deutschen Bundestag im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens verlief mehr als merkwürdig. Fast ausschließlich wurden Europa-Profiteure oder Politiker angehört. Normalerweise hätte man zu solch sensiblen Themen auch hohe Bundesrichter und auch kritischere Staatsrechtler als Experten erwartet, was sonst üblich ist. Das Gesetzesvorhaben im Deutschen Bundestag bestand aus hunderten Verweisen auf zahlreiche europäische Vertragswerke, die niemand durchschauen konnte. Erst seit Mitte April gibt es - freilich außerhalb des Deutschen Bundestages - überhaupt erst eine konsolidierte, also lesbare Fassung des Gesamtvertragstextes offensichtlich gegen den Willen einiger Regierungschefs, die diese erst nach Abschluß des Ratifizierungsverfahrens, also der Beschlüsse der nationalen Parlamente, veröffentlichten wollten. Denn mit dem Text ist es zu offensichtlich, dass es sich in weiten Strecken 1:1 um den Text der in zahlreichen Volksabstimmungen quer durch Europa abgelehnten Europäischen Verfassung handelt. Deshalb hat man auch neue Volksabstimmungen verhindert - nur in Irland hat es nicht geklappt. Dort wird am 12. Juni 2008 abgestimmt. In den Bundestagsdrucksachen ist jedoch der konsolidierte Text gar nicht zu finden - bereits ein klarer Verstoß gegen den Grundsatz der Normenklarheit, der Gesetze nichtig macht - aber nur, solange das Bundesverfassungsgericht noch etwas zu sagen hat. Und genau das will das Gesetz durch den Vorrang europäischen Rechts ebenfalls ändern.

Peter Gauweiler hat es auf den Punkt gebracht

Dr. iur. Peter Gauweiler (CSU), Urgestein, Bundestagsabgeordneter, Rechtsanwalt und bayerischer Staatsminister a.D., der als einer der wenigen Unionsabgeordneten zusammen mit der Fraktion der LINKEN gegen seine Fraktion gegen das Gesetz gestimmt hat, hat die Gründe für sein Abstimmungsverhalten in einer persönlichen Erklärung gegenüber dem Deutschen Bundestag dokumentiert und damit präzise auf den Punkt gebracht, weshalb das verfassungsändernde Gesetzespaket völlig unakzeptabel ist:

  • Der europäische Staatenbund wird in einen kontinentalen Zentralstaat verwandelt;
  • Das Recht der Europäischen Union erhält bedingungslos Vorrang vor nationalem Recht;
  • Es gibt weder einen verbindlichen, unveränderlichen Grundrechtsschutz noch sichere Möglichkeiten für den Bürger, diese durchzusetzen, während er auf nationaler Ebene ausgehebelt wird;
  • Die staatliche Souveränität der Bundesrepublik Deutschland wird aufgegeben - das darf nur per Volksabstimmung geschehen.
  • Die parlamentarische Kontrolle durch die nationalen Parlamente und richterliche Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht entfällt weitgehend, sie werden entmachtet. Eine entsprechende Kontrolle durch das Europaparlament findet aber nicht statt, während die Rolle des Europäischen Gerichtshof unklar bleibt. Dies widerspricht dem unveränderbaren Demokratieprinzip des Grundgesetzes.
  • Auch die begleitenden Verfassungsänderungen verstoßen gegen elementare Prinzipien des Grundgesetzes.

Eine gesichtswahrende Lösung wäre möglich gewesen

Gauweiler macht auch Vorschläge, wie eine gesichtswahrende und europafreundliche Rettung des Lissaboner Vertrages mit der Erklärung von rechtlichen Vorbehalten und dem Erhalt des Staatenbundes problemlos möglich gewesen wäre, was aber nicht aufgegriffen wurde, und kündigt für den Fall der Verabschiedung des Gesetzes Verfassungsklage an.

Beschämender Vorgang für den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung

Vor allem vor dem Hintergrund zahlreicher verfassungwidriger Gesetze in der Vergangenheit, z.B. die Vorratsdatenspeicherung, die oft Brüsseler Quellen zuzuordnen sind und sich beim Bundesverfassungsgericht und anderen Bundesgerichten auftürmen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier bestimmte Lobbyinteressen gnadenlos zugeschlagen haben. Ohne lästige Parlamentarier, die etwas zu sagen haben, und richtige Verfassungsgerichte kann man künftig noch besser im Trüben fischen. Es ist zu hoffen, dass Bundesrat, Bundespräsident und / oder am Ende das Bundesverfassungsgericht diesen kalten Staatsstreich abwenden - sonst verbleibt dem Bürger nur sein Widerstandsrecht, das ebenfalls im Grundgesetz steht.

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Epilog

Der Autor ist sich des Risikos bewußt, dass das hier Geschriebene wegen der Ungeheuerlichkeit des Skandals als unglaubwürdig gilt. Es sei daran erinnert, dass bis vor kurzem auch niemand Skandale dieses Ausmaßes in deutschen DAX-Unternehmen für möglich gehalten hätte. Eigentlich ist es nur logisch, dass sich diese Art von Vorgängen auch in die Politik fortsetzen, so traurig das ist.

Im übrigen ist alles Quellenmaterial zum eigenen Nachprüfen des Lesers verlinkt worden.

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