Der Telekommunikations-Nachtwächterstaat

Als Nachtwächterstaat wurde die Rolle des Staates im 19. Jahrhundert beschrieben, der sich nur um äußere und innere Sicherheit kümmerte. Der Deregulierungswahn hat uns nicht nur bei den Finanzdienstleistern, sondern auch im Bereich der Telekommunikation ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Deshalb sind wir jetzt schon die sechste Woche wegen versuchtem Anbieterwechsel ohne Telefon, Fax und DSL - beileibe kein Einzelfall.

"Kundenservice" von TK-Unternehmen auf Stand eines Entwicklungslandes heruntergekommen

Seit dem Inkraftreten des Telekommunikationsgesetzes von 2004 gibt es nämlich, obwohl ursprünglich geplant, keine Kundenschutzverordnung zum direkten Schutz der Endkunden mehr. Im Gesetz selbst gibt es nur einige dürftige Regelungen, die meist auch nur die Deutsche Telekom als marktbeherrschendes Unternehmen treffen. Das Versprechen des Grundgesetzes erweist sich als leer:

Artikel 87f Grundgesetz

(1) Nach Maßgabe eines Bundesgesetzes, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, gewährleistet der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen.

Wer also den Anbieter wechseln möchte, etwa weil er künftig von der Deutschen Telekom nicht mehr ganz so leicht potenziell illegal abhörbar sein möchte, und auf einen im Geschäftsleben üblichen Umgang vertraut, der stellt schnell fest, dass er verraten und verkauft ist: Er kann sich nämlich tatsächlich lediglich auf die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches stützen - und muss sich auch noch unverschämter Allgemeiner Geschäftsbedingungen erwehren, die in den oligopolistischen Strukturen der Branche seltsame Blüten treiben. Formular-Emails an die Regulierungsbehörde, die Bundesnetzagentur, werden von dieser noch nicht einmal beantwortet - denn es gibt dort keine rechtliche Handhabe für die Mitarbeiter, für Endkunden tätig zu werden. Auch die in USA üblichen saftigen Bußgelder der FCC bei Behinderung des Wechsel des Anbieters sind hierzulande unbekannt. So wird der Wechsel des Telekommunikationsanbieters für den Bürger zum alptraumartigen, unkalkulierbaren Risiko, und die Bundesrepublik Deutschland fällt im Kundenservice der Telekommunikationsunternehmen auf das Niveau eines Entwicklungslandes zurück - zugleich auch weit hinter den historischen Standard der seligen Deutschen Bundespost. Der volkswirtschaftliche Schaden dürfte beträchtlich sein, seinen eigenen muss man dann später in einem aufwändigen Schadenersatzprozess im Detail beweisen, da Strafschadenersatz hierzulande unbekannt ist.

Die katastrophale Chronik eines versuchten Wechsels zur 1&1 Internet AG ...

An unserem eigenen Beispiel - wir sind jetzt seit dem 12.1.2009 ohne Festnetz-Telefon, - Internet und Fax - soll die katastrophale Lage, die, wie wir bei etlichen Gesprächen feststellen mußten, offenbar alles andere ein Einzelfall ist, exemplarisch dargestellt werden.

Oktober 2008: Buchung eines 1&1 "Komplettanschlusses" mit 16.000 kbit/s inklusive Telefonanschluss . Bisher waren wir ISDN-Telefonkunde bei der Deutschen Telekom AG, aber schon einige Jahre DSL-Kunde bei 1&1. Zunächst funktioniert die Umschaltung auf höhere Geschwindigkeit problemlos, sogar Video on demand war - meistens - über die weiter von der Deutschen Telekom AG bereitgestellte Technik möglich.


Dezember 2008: 1&1 kündigt schriftlich die Schaltung des bestellten "1&1 Komplettanschlusses" für den 12.1.2009 an.

12. Januar 2009: Umschaltung auf den 1&1 Komplettanschluss, der zwar noch über die letzte Meile der Telekom, aber nicht mehr über von der Deutschen Telekom AG bereitgestellte Technik läuft. Die Folge: Im Laufe des Vormittags geht der Anschluß an die Welt der Telekommunikation verloren, es geht bis zum heutigen Tage nichts mehr.


Vergebliche Anrufe bei 1&1, "Kundenservice / Warteschleife", gebührenpflichtige Rufnummer (z.B. von E-Plus Base aus Kosten 1€/min):

12. Januar 11:00, Dauer 37min 40s vergeblicher Anruf;

12. Januar 11:54, Dauer 8 min 59 s vergeblicher Anruf;

13. Januar 16:50, Dauer 19 min 33 s vergeblicher Anruf;

13. Januar schriftliche Mahnung mit Frist wegen Lieferverzug, vergeblich

15. Januar 18:47, Dauer 21 min 13 s vergeblicher Anruf;

16. Januar 12:53, Dauer 9 min 34 s vergeblicher Anruf;

16. Januar weitere schriftliche Mahnung mit Fristsetzung, vergeblich

19. Januar 2009 fristlose Kündigung wegen Nichtleistung zum Termin per Einschreiben Rückschein bei 1&1 Internet AG, an den Vorstandsvorsitzenden Dommermuth persönlich, der jedoch trotz persönlich gehaltener Zeilen nicht persönlich antwortet.

... und die bisher verhinderte Rückkehr zur Deutschen Telekom AG

19. Januar 2009 Buchung eines Telekom-Anschlusses für Internet und Telefonie (Flatrate) mit dem Versprechen im T-Punkt, dass mein Anschluss zum 23. Januar 2009 wiederhergestellt sein dürfte: Technisch lief er ja einwandfrei bis zum 12.1. über die Telekom. Kein großes Problem, hätte man gedacht, es muss nur der Schalter wieder umgelegt werden. Von wegen!

23. Januar 2009 Es geht weiter nichts.

23. Januar 1&1 lehnt die fristlose Kündigung ab.

23. Januar schriftliche Mahnung an die Deutsche Telekom AG zur Schaltung des Anschlusses

26. Januar vergeblicher Anruf bei der Deutschen Telekom AG, Kundenservice

26. Januar weiteres vergebliches Schreiben an 1&1

28. Januar weiterer vergeblicher Anruf bei der Deutschen Telekom AG, Kundenservice

29. Januar weitere schriftliche Mahnung mit Fristsetzung an die Deutsche Telekom AG zur Schaltung des Anschlusses, vergeblich

5. Februar Anwaltsschreiben an 1&1, Anschluss freizugeben

5. Februar Anwaltliches Auskunftsersuchen an die Telekom, warum Anschluss nicht geschaltet wird.

11. Februar: 1&1 bestätigt Kündigung des weiterhin nicht funktionierenden Anschlusses zum 4.11.2010 (!)

11. Februar 2. Anwaltsschreiben an 1&1 mit Klageandrohung.

18. Februar: Lt. schriftlicher Zusage von 1&1 werden zwar die Rufnummern freigegeben, man will mich aber weiter nicht aus dem Vertrag entlassen. Schließlich wolle man weiterhin einen Techniker zu mir schicken. Den freilich hätte man längst vor Fristablauf schicken können - ausserdem ein sinnloses Unterfangen, denn alle Leitungen haben bis zur Umschaltung durch 1&1 einwandfrei mit 16.000 kbit/s funktioniert. Derweil gibt es auch weiterhin kein Telefon, DSL und Fax. Weder von 1&1, noch von der Telekom.

25. Februar: Lt. telefonischer Auskunft des Telekom Kundenservice ist die Rufnummer weiterhin von 1&1 bzw. Telefonica bis 4.11.2010 in Beschlag. Es gibt weiterhin kein Telefon, DSL, und Fax, weder von 1&1, noch von der Telekom.


Dieses Stück aus dem Tollhaus, das sich derzeit mutmasslich (zig?-)tausendfach in Deutschland abspielt, wird demnächst fortgesetzt.

siehe auch: Anwalt beantragt Beugehaft gegen René Obermann

[Update 1.4.2009]: Nach 7 Wochen schaltete die Telekom Anfang März die alten Rufnummern und DSL wieder, nachdem ich schließlich einen privaten Kontakt in die Telekom-Zentrale ǵenutzt hatte. Dabei kam heraus, dass 1&1 die Leitung nicht freigab (weshalb dann ein Telekom-Techniker anrücken mußte) und außerdem meine Nummern zwischenzeitlich zur beliebigen Verwendung für jedermann freigegeben hatte. 1&1 traktiert mich weiterhin mit Inkasso-Schreiben und Anrufen, obwohl mein Anwalt dies verbeten und 1&1 zur gerichtlichen Geltenmachung ihrer angeblichen Ansprüche aufgefordert hat, zuletzt Anruf der Inkassofirma Delta am 23.3.09.

We are not alone: Frontal21 zu 1&1 (Video)

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