"Die CSU schadet Konzerninteressen"
Eigentlich sollte dies nur ein kurzer Leserkommentar unter obigem Titel zu einem gleichnamigen Artikel in der WELT werden, der jedoch nur wenige Stunden der Freischaltung bis zu seiner endgültigen Zensur, sprich willkürlicher Löschung, überlebte. Grund genug, das Thema hier im Blog noch einmal aufzurollen.
Warum ist die maßgebliche Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei EU-Beschlüssen so wichtig?
Die EU hat als supranationale Organisation schon aufgrund ihrer Größe und kulturellen Vielfalt ein prinzipielles demokratisches Defizit. Ein Gesetz wird in Griechenland oder Bulgarien auf eine oft völlig andere gesellschaftliche Realität treffen als in Deutschland. Sie muss daher jede Möglichkeit der Rückkopplung mit ihren Völkern nutzen, schon um nicht völlig weltfremde Entscheidungen zu treffen. Und deshalb gibt es auch natürliche Grenzen für Kompetenzübertragungen. Jedoch ist das Defizit durch ihre Institutionen historisch entwickelt noch viel stärker ausgeprägt, als dies Kraft Natur ihrer Sache sein müsste:
Das Europäische Parlament hat weiter nur sehr beschränkte Mitwirkungsrechte
Es wirkt nur ähnlich einem Betriebsrat bei der gesetzgeberischen Entscheidungsfindung von EU Kommission und EU Ministerrat mit. Seine Rechte bleiben auch nach dem Vertrag von Lissabon weit hinter dem zurück, was die Völker Europas im 19. und 20. Jahrhundert an Demokratie und Freiheitsrechten gegenüber den Herrschenden mühsam mit viel Blut, Schweiß und Tränen durchgesetzt haben.
Insbesondere benötigt die EU Kommission - anders als nach langem Kampf am Anfang des 20. Jahrhunderts die typische nationale europäische Regierung - nicht das ständige Vertrauen des Parlaments. Das Parlament hat kein Recht der Gesetzesinitiative, darf also keine eigenen Gesetzesvorschläge einbringen. Erstaunlich, das war schon im Deutschen Kaiserreich bei Fürst Bismarck möglich! Die wichtigste Gesetzgebungskammer ist der EU Ministerrat. Dort sitzen häufig lediglich Ministerialbeamte der Nationen, noch nicht einmal gewählte Politiker, und stimmen über 60-80% unseren Alltag bestimmende Gesetze ab. Diese wandern dann in den letzten Jahren irgendwann nach Berlin, wo sie von den Bundestagsabgeordneten in ein deutsches Gesetz transformiert einfach ungesehen abgenickt werden ("müssen"). Schließlich will es ja "die EU" so. Manchmal, wie beim Verbot der Glühbirne, aber noch nicht einmal das.
Das Europäische Parlament ist nicht gleich gewählt
Der Ministerrat ist neben der Kommission, die alleine EU-Gesetze auf den Weg bringen kann(!), das wichtigste Gesetzgebungsorgan der EU. Obwohl er bereits nach gleich vertretenen Staatenstimmen zusammengesetzt ist, wird das Europäische Parlament als weitere Gesetzgebungskammer nicht gleich gewählt, sondern ähnlich dem Preußischen Dreiklassenwahlrecht von 1849: Ein Abgeordneter aus Luxemburg vertritt 82000 Bürger, einer aus Deutschland 830000 Bürger. Nach dem Lissabon-Vertrag sehen die Relationen noch schlechter aus.
Faktische Hinterzimmergesetzgebung - das ideale Substrat für (Finanz-) Lobbyisten und Korruption
All diese Faktoren sind grundlegend für das Demokratiedefizit der Europäischen Union - denn Lobbyisten können im Hinterzimmer die faktisch entscheidenden Ministerialbürokraten der nationalen Regierungen und der Kommission fern der Öffentlichkeit und ohne deren öffentliche Verantwortlichkeit für ihre heute oft völlig skrupellose Interessendurchsetzung gewinnen. Dies ist die direkte Folge dieses Systems, die man womöglich auch als eine weitere der tieferen Ursachen der Finanzkrise diagnostizieren kann.
Praktische Beispiele für von der EU bzw. ihrem Gerichtshof veranlaßte Politikwechsel, die im Deutschen Bundestag oder den Landesparlamenten sonst vermutlich nie eine Mehrheit gefunden hätten, sind das Rauchverbot in Kneipen, die kalte Aushebelung deutscher Mitbestimmungs- und Insolvenzsicherungsvorschriften durch den Zwang, beliebige europäische Unternehmensrechtsformen auch für in Deutschland agierende Unternehmen zu akzeptieren, oder die faktische Aushöhlung der Tarifautonomie durch exzessive Auslegung der EU-Dienstleistungsfreiheit. Die schrankenlose, als "EU-Grundfreiheit" garantierte Kapitalsverkehrsfreiheit schuf die Grundlage für die Finanzkrise und die Unkontrollierbarkeit globaler Zocker. Faktisch wurde so die Axt an die soziale Marktwirtschaft gelegt.
Die "Solange" Verfassungsgerichtsentscheidung
Das Bundesverfassungsgericht hat seine Entscheidung, dass unter diesen Umständen die Mitwirkung des Deutschen Bundestages essentiell ist, wiederum an eine Solange-Bedingung geknüpft:
Solange und soweit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einem Verbund souveräner Staaten mit ausgeprägten Zügen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit gewahrt bleibt, reicht grundsätzlich die über nationale Parlamente und Regierungen vermittelte Legitimation der Mitgliedstaaten aus, die ergänzt und abgestützt wird durch das unmittelbar gewählte Europäische Parlament (vgl.BVerfGE 89, 155 <184>).
Wenn dagegen die Schwelle zum Bundesstaat und zum nationalen Souveränitätsverzicht überschritten wäre, was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes voraussetzt, müssten demokratische Anforderungen auf einem Niveau eingehalten werden, das den Anforderungen an die demokratische Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche. Dieses Legitimationsniveau könnte dann nicht mehr von nationalen Verfassungsordnungen vorgeschrieben sein.
Alternativ ist also auch eine demokratische EU möglich
Dies bedeutet natürlich im Umkehrschluss: Auch eine demokratische Europäische Union ist alternativ denkbar, wenn sie auch aufgrund ihrer Größe und Vielfalt immer an Grenzen sinnvoller Zentralisierung stossen muss. Eine solche EU muss dann aber deutlich anders aussehen, als die des Vertrages von Lissabon! Solange das nicht der Fall ist, muss die Musik wieder im Deutschen Bundestag und den anderen nationalen Parlamenten spielen. Etwas anderes können wir uns weder als deutsche noch als europäische Bürger leisten, ohne die demokratischen Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts für eine Despotie nicht dazu legitimierter Euro-, Büro- und Plutokraten aufzugeben - was womöglich schon der Fall ist. Und damit würde sich auch das Problem der Politikverdrossenheit von selbst erledigen, weil sich die Bürger wieder ernst genommen fühlen könnten. Denn Abgeordnete, die gar nichts erreichen können, weil man sie ausgetrickst hat, sind weder für die Abgeordneten selbst, noch für die Bürger besonders lustig. Freilich gilt das nicht nur für Brüssel, sondern auch für Berlin selbst!
Und deshalb schaden die CSU und die LINKE mit ihren Forderungen zur EU-Politik nicht Deutschland oder Europa, sondern irgendwelchen anderen Interessen, die dadurch ihre Felle wegschwimmen sehen und lautstark agieren (lassen).
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