Arbeitsrecht: Loyalität nicht mehr bis zum Erbrechen

Still und leise, ohne eigene Pressemitteilung(!), hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) seine bisherige Rechtssprechung zum absoluten Vorrang arbeitsrechtlicher Loyalitätspflicht der Arbeitnehmer auch gegenüber kriminellen Vorgesetzten geändert. Offenbar haben nach einem halben Jahrhundert auch die Richter des BAG die davon ausgehende fatale rechts- und gesellschaftspolitische Wirkung vielfach trauriger betrieblicher Realitäten endlich erkannt.

Ob die Richter sich dafür geschämt haben, dass es so lange gedauert hat? Oder war es die peinliche Nachhilfe durch das Bundesverfassungsgericht? Merkwürdig ist es schon, dass angesichts der vielen Skandale in so bedeutenden DAX-Unternehmen wie Siemens, VW, TUI usw. das Bundesarbeitsgericht nicht öffentlich auf diese gravierende Veränderung der eigenen Rechtssprechung aufmerksam gemacht, sondern im Gegenteil auch noch die angebliche Kontinuität der eigenen Rechtssprechung betont hat. Was also ist geschehen?

Seit 1959: Bundesarbeitsgericht betonte jahrzehntelang den absoluten Vorrang der Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers

In arbeitsrechtlichen Schulungen pflegte ein origineller Arbeitsrichter gerne das Beispiel des Bäckermeisters Franz, der seine Frau Rosi umgebracht hatte. Sein Mitarbeiter Hans, dessen Arbeitsverhältnis davon nicht berührt war, zeigte ihn daraufhin an. Nach jahrzehntelanger herrschender Meinung durfte der Bäckermeister Hans daraufhin wegen Verletzung der Loyalitätspflicht fristlos kündigen. Diese prinzipiell seit einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 1959 bestehende höchstrichterliche Rechtssprechung, wo das BAG eine Kündigungsschutzklage des Angestellten einer Speditionsfirma abwies, dem fristlos gekündigt worden war, nachdem er den Verstoß seines Arbeitgebers gegen güterverkehrsrechtliche Bestimmungen angezeigt hatte (NJW 1961, 44), hatte das Bundesarbeitsgericht trotz des "Weckrufs" des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2001 zwei Jahre später erneut verteidigt.

2001: Der staatsbürgerliche Weckruf des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2001 ganz klar bekräftigt, dass eine Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte bzw. Pflichten (hier waren es die noch nicht einmal auf eigene Initiative zustande gekommenen Aussagen eines Arbeitnehmers über den Chef gegenüber der Staatsanwaltschaft in deren Ermittlungsverfahren) nicht zu zivilrechtlichen Nachteilen (hier: die Kündigung des Arbeitsverhältnisses) führen darf. Nach klassischer Ansicht des BAG jedoch (im konkreten Fall einer dieser folgenden Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes) überwogen die Loyalitätspflichten des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber dessen Interesse an der Strafanzeige. Dies hatten wir in unserem Blog-Eintrag "Arbeitsrecht stützt Wirtschaftskriminalität" kritisch beleuchtet.

2003: Die Trotzreaktion des Bundesarbeitsgerichts

In seinem Urteil von 2003 hat es das Bundesarbeitgericht in einer gewissen Trotzhaltung gegenüber den Verfassungshütern für nötig gehalten, die klaren Aussagen des Verfassungsgerichtsurteils - Vorrang der staatsbürgerlichen Rechte bzw. Pflichten - wiederum zu relativieren. Die Kündigung eines Arbeitnehmers wegen einer anonymen Strafanzeige gegen den Arbeitgeber wurde zum Anlaß genommen, dem Landesarbeitsgericht eine erneute Abwägung zwischen Loyalitätspflicht und staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten im konkreten Fall zur Prüfung aufzugeben. Dieses hatte zuvor unter Bezugnahme auf besagtes Verfassungsgerichtsurteil klar zugunsten des Arbeitnehmers entschieden.


BAG 2006: Stärkung von "Whistleblowern" - berechtigte Strafanzeige gegen Organmitglieder ausdrücklich geschützt

2006 hat sich dann wohl die Erkenntnis auch beim Bundesarbeitsgericht durchgesetzt, dass die teils traurige gesellschaftliche Realität der zahlreichen Großkonzernskandale zum Schutz der Rechtsordnung eine neue Abwägung von Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers und sonstiger Einhaltung der Rechtsordnung, insbesondere der Strafgesetze, erforderlich macht.


Vorstandsmitglieder eines eingetragenen, gemeinnützigen Vereins hatten Gelder veruntreut, und der beim Verein angestellte Kraftfahrer Strafanzeige erstattet. Es ist hochinteressant, dass das Bundesarbeitsgericht ganz anders als früher, aber ironischerweise unter Bezugnahme auf sein Urteil von 2003 nun sogar das öffentliche Interesse an der Aufklärung der Straftat betont:


a) Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung war der Kläger nicht verpflichtet, vor Erstattung der Strafanzeige eine innerbetriebliche Klärung zu versuchen. Ob, wie der Kläger behauptet, im Juli 2001 mehrere Gespräche in dieser Richtung geführt wurden, kann deshalb dahinstehen. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, es habe sich bei den angezeigten Unregelmäßigkeiten um schwerwiegende Vorfälle gehandelt, ist nicht zu beanstanden. Die Vorsitzende des Beklagten hat durch 30 Einzeltaten über mehrere Jahre hinweg Beträge von insgesamt über 50.000,00 DM veruntreut. Die Straftat der Untreue ist nach § 266 Abs. 1 StGB mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht und damit keineswegs ein Bagatelldelikt. Hinzu kommt, dass diese schweren und zahlreichen Straftaten von der gesetzlichen Vertreterin des Arbeitgebers selbst begangen wurden. Wie der Senat in der Entscheidung vom 3. Juli 2003 (- 2 AZR 235/02 - BAGE 107, 36) ausgeführt hat, muss bei dieser Konstellation die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme regelmäßig zurückstehen. Weiter durfte das Landesarbeitsgericht auch berücksichtigen, dass es bereits zu Verzögerungen bei der Auszahlung von Arbeitsvergütungen gekommen war. Ebenfalls zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Auffassung des Beklagten - und des Arbeitsgerichts - als unzutreffend eingestuft, den Kläger als “schlichten Kraftfahrer” beträfen die Unregelmäßigkeiten nicht und er habe sich deshalb mit Strafanzeigen zurückzuhalten. Diese Auffassung verkennt, dass jeder Arbeitnehmer - auch der von einem gehobenen Selbstwertgefühl als “schlicht” eingestufte - wenn er eine Strafanzeige erstattet, ein staatsbürgerliches Recht wahrnimmt, das ihm unabhängig von seiner beruflichen Stellung und deren Bewertung durch den Arbeitgeber oder Dritte zusteht. Dessen Ausübung lag im vorliegenden Fall umso mehr im öffentlichen Interesse und bedurfte deshalb auch arbeitsrechtlichen Schutzes, als der Beklagte auch von Gerichten in Strafverfahren festgesetzte Bußgelder vereinnahmt hat. Weiter ist es auch nicht zu beanstanden, wenn das Landesarbeitsgericht die Erfolgsaussichten eines innerbetrieblichen Klärungsversuchs als gering eingestuft hat. Diese Einschätzung des Landesarbeitsgerichts hat zumindest durch das - wahrheitswidrig - bestreitende Prozessverhalten des Beklagten eine beredte Bestätigung gefunden. Dass die vom Kläger erhobenen Vorwürfe im Übrigen berechtigt waren, steht auf Grund der Verurteilung durch das Amtsgericht fest.   

Quelle: Bundesarbeitgerichtsentscheidungen, Zusammenfassung auch bei Lexetius.

Fazit

Das 2006 ergangene, bisher wenig bekannte Urteil des Bundesarbeitgerichts trägt nun in weit stärkerem Masse der traurigen gesellschaftlichen Realität Rechnung, die sich zweifellos seit 1959 durch die spürbar mmer geringere Präsenz des ehrbaren Kaufmanns in unserem Wirtschaftsleben sehr verschlechtert hat. Freilich hatte das Bundesverfassungsgericht das schon 2001 gemerkt!

Für die Praxis bedeutet beides, dass es für Arbeitnehmer mit weniger juristischen und wirtschaftlichen Risiken des Arbeitsplatzverlustes verbunden ist, als Whistleblower insbesondere gegen kriminelle Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder vorzugehen, die sich meist auch als Chefs als besondes rücksichtslose Egoisten erweisen. Dennoch bleiben die Risiken auf Seiten des Arbeitnehmers auch deshalb groß, weil es für einen Arbeitgeber auch weiterhin leicht ist, Kündigungsgründe wie ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern. Es braucht sehr gute Nerven und Durchhaltevermögen, diesen Weg bis zu Ende gehen. Unsere Gesellschaft bleibt für eine positive Entwicklung freilich auf diese Mutigen angewiesen. Um so wichtiger, dass sie auch endlich mehr Rückhalt bei der Justiz finden.

Epilog

Es ist nicht uninteressant, sich abschließend auch einmal die verhaltensbiologischen Grundlagen dieser juristischen Abwägungskonflikte klar zu machen. Der bis in die heutige Zeit verhaltensmäßig weiter präsente Steinzeitmensch überlebte in der Jagdgemeinschaft, die für ihr Überleben auf bedingungslose Loyalität angewiesen war. Die arbeitsrechtliche Loyalität ist sicherlich eine moderne Ausprägung dieser Verhaltensmuster. Im Unterschied zu heutigen Großkonzernen mit anonymen Eigentümern war jedoch die Stellung des "Rudelführers" vor allem seiner Autorität und Überlegenheit im Überlebenskampf als Vorteil für die Gesamtgruppe der jeweiligen Jagdgemeinschaft geschuldet. Da dies heute oft aber ganz anders aussieht, ist es nur konsequent, wenn diese Loyalität in der heutigen Zeit zwar noch der Jagdgemeinschaft gilt, nicht aber kriminell und damit gemeinschaftsschädlich agierenden Individuen. Für das Überleben der Jagdgemeinschaft ist es vielmehr essentiell, das diese bestraft und von ihren Posten entfernt werden. Dies vor allem, wenn Arbeitnehmer immer weniger Möglichkeiten haben, sich die Jagdgemeinschaft ihrer Wahl auszusuchen.


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