"Nichts für geistig Gesunde"

Den passenden Kommentar zur Ratifizierung des Lissaboner EU-Vertrages nach dem Bundestag im Bundesrat letzte Woche lieferte sein Befürworter EU-Kommissar Charlie McCreevy. "Kein geistig Gesunder" würde wirklich je den gesamten Vertrag von Lissabon lesen wollen, so der Kommissar im irischen Independent.
Der Ire Charles McCreevy weiter im irischen Independent: Er erwarte nicht dass "irgendeine geistig gesunde und vernünftige Person" den Vertrag übers Wochenende von vorne bis hinten lesen würde.
"Ich habe es nicht getan, und ich glaube nicht, dass es jemand in diesem Raum gibt, der ihn von vorne bis hinten gelesen hat."

"Ich erwarte nicht, dass normale sittsame irische Bürger, oder sonst irgendwo auf der Welt, sich hinsetzen, um Stunden über Stunden Abschnitte über Unterabschnitte zu lesen, die sich auf Artikel über Unterabschnitte beziehen. Aber es gab genug Analyse."

So versucht der Kommissar, zuvor Finanzminister des jetzt passend zur Voksabstimmung wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetretenen Premier Ahern, seinem Volk die Zustimmung zum Lissaboner EU-Vertrag schmackhaft zu machen. Die Iren dürfen nämlich dank eines wachsamen Obersten Gerichtes am 12. Juni 2008 über den Vertrag abstimmen. In Deutschland konnte der Bundestagsabgeordnete Dr. Peter Gauweiler (CSU), der mit einigen wenigen seiner Fraktion gegen diese mit der LINKEN gegen die Ratifizierung des Vertrages stimmte, aus rechtlichen Gründen erst jetzt nach der Verabschiedung in Bundestag und Bundesrat Klage gegen den Vertrag einreichen. Ein Referendum hat man uns Deutschen erst gar nicht zugetraut, aber auch nicht den Franzosen und Niederländern, denn die hatten einen fast identischen Text namens EU-Verfassung ebenso wie die Iren schon mal aus gutem Grund abgelehnt. Wie steht es da um das Demokratieverständnis des EU-Ministerrates und der europäischen Regierungen?

Man muss nämlich schon viel sprichwörtlich irischen Humor besitzen, um die Abschaffung eines effektiven Grundrechtsschutzes, der Gewaltenteilung, des Demokratieprinzips und der Entmachtung aller nationalen Parlamente in der EU zugunsten einer nicht demokratisch gewählten und nicht wirklich abwählbaren EU Kommission mit alleiniger Gesetzesinitiative, und einem allmächtigen Ministerrat (Rat der Regierungschefs) einschließlich eines von den Regierungschefs(!) ernannten Europäischen Gerichtshofs so zu kommentieren. Allmächtig, denn der Ministerrat darf dann künftig sogar die Verträge einfach abändern, ohne groß zu fragen! Gleichzeitig zeigt der Kommentar McCreevys freilich auch die Schwiergkeit, überhaupt einheitliche Gesetze bei großen kulturellen Unterschieden zu verfassen und anzuwenden - sie werden nämlich gar nicht überall gleich ernst genommen. Und es erklärt weiter, warum diese politische Katastrophe bisher kaum bemerkt worden ist.


Freilich stimmt optimistisch, dass sich die Richter des Bundesverfassungsgerichts von solcherlei Äußerung wohl kaum von der Lektüre des Vertrags abhalten lassen dürften. Vielleicht ist in Wahrheit doch eher derjenige geistig gesund, der Verfassungs-ändernde Verträge Wort für Wort liest, und derjenige geistig ungesund, der solcherart monströse Verträge erst verfaßt, oder verfassen läßt, oder ungelesen oder ungelesen lassen verabschiedet.


Links:

Peter Gauweilers Klage gegen den EU-Vertrag von Lissabon

Bürgerinitiative "EU-Vertrag stoppen"

Prof. von Arnim zur Zukunft der EU in der NJW

Webseite von Prof. Dr. iur. Karl Schachtschneider (viele einschlägige Dokumente)

Der kalte Staatstreich

[update 15.6.08] ausgewählte Textstellen des Vertrages


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